Als Österreich gegen Italien die Gemüter erhitzte

37 Mal matchten einander Italien und Österreich bisher in Länderspielen. In der Fußball-Frühgeschichte erhitzten vor allem zwei Spiele die Gemüter. Aus unterschiedlichen Gründen: Ein 0:0 auf der Wiener Hohen Warte (15. April 1923) sorgte wegen der Masse von 85.000 Zuschauern für Schlagzeilen, das WM-Semifinale am 4. Juni 1934 (0:1 in Mailand) ging wegen des mutmaßlich irregulären Verlusttors in die Geschichte ein. Wobei dieses über die Jahrzehnte geradezu mystifiziert wurde.

Obwohl das Spiel von 1923 torlos endete, schwelgte das „Sport-Tagblatt“ in Superlativen: „Das war ein Tag, wie ihn der Wiener Fußballsport noch nicht gesehen hat, ein Tag, dem zumindest, was die Anteilnahme der Bevölkerung und den Massenzustrom der Zuschauer betrifft, auch die Annalen von Englands Fußballsport nur wenige zur Seite zu stellen haben. Fünfundachtzigtausend Menschen, eine Zahl, die für Wien und den Kontinent einen Rekord an Besuchern bedeutet, wohnten auf der Hohen Warte dem Kampf (…) bei, Menschen aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung. Unbeschreiblich eindrucksvoll und überwältigend war das Bild der himmelaufsteigenden Menschenmauer, die in dem ganzen ungeheuren Rund der Hohen Warte auch nicht die kleinste Lücke aufwies. Zu Fuß, mit der Elektrischen und der Stadtbahn, in Automobilen, deren hunderte außerhalb der Hohen Warte parkierten, waren sie von der Mittagsstunde angefangen dem Schauplatz des Länderspiels zugeströmt.“

Sportlich war das Spiel eher unwichtig, analysiert dazu der Sporthistoriker Matthias Marschik gegenüber der APA. „Aber es hatte in zweierlei Hinsicht große Bedeutung: Auf der einen Seite fand es zu einem Zeitpunkt statt, an dem der Wiener Fußball massiv im Aufwind war, sich die Meisterschaft konsolidiert hatte, international erste große Erfolge erreicht wurden und sich eine Massenkultur des Fußballs etablierte.“ Damals habe sich in Österreich gerade der Profibetrieb „angekündigt, wenn auch vorerst noch illegal“. Dazu kam kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs eine politische Komponente dazu, meint der Historiker. „Die Siegermächte boykottierten Österreich gerade im Fußball.“ Außer Italien. 1922 gab es in Rom ein Länderspiel (3:3) zwischen den beiden Ländern, die sich ein paar Jahre davor noch in den Schützengräben gegenüber gelegen waren. „Das Spiel auf der Hohen Warte war das erste Antreten eines Teams einer Siegermacht in Wien und damit die Rückkehr Österreichs auf die globale Fußballbühne.“

Die Politik war auch am Ball, als 1934 die WM im faschistischen Italien von Diktator Benito Mussolini ausgetragen wurde. Dass der „Duce“ den Titel forderte, war allen klar. Die italienischen Spieler fürchteten gar, andernfalls exekutiert zu werden, weiß Marschik. 1934 war der Zenit von Österreichs „Wunderteam“ schon überschritten, dennoch war die Semifinalniederlage eine herbe Enttäuschung. Dem Siegestreffer der Squadra Azzurra in der 18. Minute war freilich ein Foul an Tormann Peter Platzer vorangegangen, wie auch das „Kleine Blatt“ monierte: „Durch ein regelwidriges Tor verloren. Platzer hatte einen Ball gefangen und sich mit dem Gesicht gegen das eigene Tor gedreht, um das Leder vor heranstürmenden Gegnern abzudecken, da wurde er von Meazza regelwidrig von rückwärts angegangen, der Ball entglitt den Händen Platzers und Meazza oder Guiata drückten dann ein. Der Schiedsrichter nahm keinen Anlaß, das Vergehen zu ahnden.“

Der schwedische Referee Ivan Eklind nahm in Folge in historischen Rückblicken eine große Rolle ein. Er habe mehrere Fouls an den Österreichern nicht geahndet und sie gegen Ende des Spiels sogar einer Torchance beraubt, weil er den Ball höchstpersönlich in das Torout köpfelte. Dass er am Abend vor dem Spiel bei einem Empfang von Mussolini zugegen war, hinterließ auch einen schalen Beigeschmack, wie Marschik meint: „Das kann man als simple Einladung oder als versuchte Beeinflussung auslegen.“

Dennoch ist interessant, dass etwa das „Sport-Tagblatt“ der eher unrühmlichen Rolle Eklinds in seinem eigentlichen Spielbericht keinen Raum einräumte. Erst am nächsten Tag stand dort zu lesen: „Der entscheidende Treffer wird von den hier anwesenden ausländischen Journalisten – und es sind ihrer nicht wenige – als irregulär bezeichnet und auch italienische Kreise versuchen nicht, ihn als unbedingt korrekt auszugeben. Es ist aber eine Tatsache, daß Platzer an der Angelegenheit auch nicht unschuldig war.“ Generell lastete die zeitgenössische Presse die Niederlage nur bedingt dem Referee an. Resümee des „Sport-Tagblatts“: „Es wäre ein Unrecht gegen die Italiener und ein für die Zukunft verhängnisvoller Fehler, verheimlichen zu wollen, daß die Italiener ihren Sieg zweifelslos verdient haben.“

Vielmehr zeigte sich der nach Mailand entsandte „Sonderberichterstatter“ von der Begeisterungsfähigkeit des italienischen Publikums beeindruckt: „Die große Explosion im Zuschauerraum erfolgte, als der Schiedsrichter abgepfiffen hatte, und die Italiener endgültige Sieger waren. Da gab es kein Halten mehr, da tobten auch ganz besonnen aussehende Menschen, Hüte und Tücher wurden in die Luft geworfen, (…) die italienischen Spieler selbst hatten jede Haltung verloren, sie umarmten einander, wälzten sich auf dem Boden. Es herrschte ein geradezu unbeschreiblicher Tumult; als aber die Österreicher in die Mitte des Spielfelds eilten und ihre Gegner beglückwünschten, fiel auch ein tüchtiges Stück Beifall für sie ab.“

Österreichische Kicker wurden seinerzeit in Italien überhaupt oft beklatscht, erinnert Marschik an ein wenig bekanntes Kapitel bilateraler Fußballgeschichte. Lange vor Ernst Ocwirk (Sampdoria Genua 1956-1961), Herbert Prohaska (Inter Mailand 1980-1982, AS Roma 1982-1983), Walter Schachner (Cesena 1981-1983, Torino 1983-1986, Pisa 1986, Avellino 1986-1988) oder Toni Polster (Torino 1987-1988) war der „Calcio Danubiano“ („Donaufußball“) in Italien ein wichtiger Faktor. In einem Beitrag von Marschiks Historiker-Kollegen Bernhard Hachleitner in dem 2011 erschienen Sammelband „Die Legionäre. Österreichische Fußballer in aller Welt“ heißt es: „Ab 1922 hatten fast alle italienischen Vereine österreichische und ungarische Spieler unter Vertrag. Bis 1925 verdoppelte sich die Anzahl der Donaufußballer jedes Jahr, 1925 waren es bereits 80.“

Bekannt sind diese Spieler heute kaum noch, selbst wenn manch einer erstaunlichen Erfolg hatte: In der Saison 1926/27 traf Anton Powolny 22 Mal für Inter Mailand und wurde Torschützenkönig. Allerdings passten solche Helden nicht zur damals bestimmenden faschistischen Ideologie der nationalen Stärke Italiens. In Folge wurden Ausländer aus den italienischen Ligen verbannt. Doch waren weiterhin österreichische Trainer in Italien aktiv, erinnert Marschik etwa an den 1889 in Wien geborenen Anton Cargnelli. Als Spieler war er bei Rapid und einmal sogar im Nationalteam aktiv, als Trainer holte er mit Torino (1928) und Ambrosiana, wie Inter während des Faschismus hieß, (1940) den Meistertitel.

Aber auch „Wunderteamchef“ Hugo Meisl hatte beste Kontakte zu Italien. Marschik: „Das kam auch in der Konzeption des Mitropacups zum Ausdruck, der stark auf die Interessen Italiens zugeschnitten war. So fand die erste vorbereitende Mitropacup-Konferenz 1927 in Venedig statt – und das, obwohl Italien noch gar nicht teilnahm.“ Es folgt ein in der Geschichtsschreibung wenig thematisiertes Detail am Rande: „Meisl war ein Bewunderer Mussolinis, von dem er schon 1927 in Privataudienz empfangen wurde und eine signierte Karte erhielt. Er stimmte auch dafür, durch ein Länderspiel 1936 in Rom den internationalen Sportboykott gegen das faschistische Italien wegen des Abessinien-Kriegs zu durchbrechen.“

(Von Edgar Schütz/APA)

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