„Offener Krieg“ – Ferrari hat weiter ein Hierarchie-Problem

Im Formel-1-Duell zwischen Sebastian Vettel und Charles Leclerc entgleitet Ferrari die Kontrolle. Selbst nach der Eskalation von Sotschi will Teamchef Mattia Binotto die Vertrauenskrise zwischen den Stallrivalen am liebsten weiter weglächeln. Der „Corriere dello Sport“ in Italien erkennt nach den jüngsten Machtspielchen am Schwarzen Meer längst einen „offenen Krieg“ zwischen Vettel und Leclerc.

Der vierfache Ex-Weltmeister verkniff sich schwer frustriert und merklich genervt jeden Kommentar zum teaminternen Zwist. „Für mich ist es am besten, wenn ich nichts dazu sage. Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte Vettel. Bevor der 32-Jährige am Sonntag aufgrund eines technischen Defekts ausschied, sorgte eine am Boxenfunk ausgetragene Diskussion über die Teamstrategie für viel Gesprächsstoff. Die seltsame Ferrari-Rennsteuerung hatte die nächste unnötige Posse zwischen Vettel und Leclerc zur Folge.

„Nein“, antwortete Binotto auf die Frage, ob sich einer der Piloten nicht an Absprachen gehalten habe. Der 49-Jährige ist im Kampf um die Vormachtstellung im Team als Schlichter gefragt – und gibt keine gute Figur ab. Vettel schien sich nicht an den von Leclerc ausgeplauderten Plan gehalten zu haben. Der Deutsche profitierte beim Start vom Windschatten Leclercs, wollte den gewonnenen Platz aber nicht wie abgemacht sofort zurückgeben. Der 21-jährige Monegasse nahm das nicht ganz freiwillig hin, ging nach einem Boxenstopp aber in Führung und wurde Dritter. Vettel schied in der 28. Runde aus, weil ein Teil der Hybrid-Einheit des Motors versagt hatte.

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Die kleinsten Details des roten Hickhacks in Russland spielen eigentlich kaum eine Rolle, denn das Bild ist klar: Ferrari hat seine Piloten nicht im Griff. Eine Woche zuvor in Singapur war Leclerc nach dem Vettel-Sieg sauer, weil er aus seiner Sicht benachteiligt worden war. Doch niemand spricht ein Machtwort, niemand sorgt für Ordnung. Vettel hat weiter viel Kredit beim Team, obwohl Neuling Leclerc längst auf der Strecke dominiert. Neunmal en suite war er zuletzt im Qualifying schneller, in der WM liegt er 21 Punkte vor seinem mehr als zehn Jahre älteren Teamkollegen.

„Ich glaube, es ist ein Luxus, denn wir haben zwei fantastische Fahrer“, meinte Binotto. Doch das stark vergiftete Fahrer-Verhältnis ist längst Ferraris größtes Problem. Das Auto ist dank des starken Motors überlegen, selbst Branchenprimus Mercedes fürchtet den Topspeed der Italiener. Doch die Scuderia macht aus diesem Vorteil viel zu wenig und hat auch in der Konstrukteurs-WM fünf Rennen vor Saisonende schon keine Chance mehr.

Lewis Hamilton steuert deshalb unaufhaltsam WM-Titel Nummer sechs entgegen, es bestehen nur noch mathematische Chancen, dass der Brite abgefangen wird. Auch, weil bei den Silberpfeilen besser zusammengearbeitet wird. Der Finne Valtteri Bottas ist die klare Nummer zwei und muss das akzeptieren. In Russland fungierte er so beispielsweise als Puffer, um Hamiltons Sieg abzusichern. Der Engländer jagte zudem Rekordchampion Michel Schumacher eine weitere Bestmarke ab: Hamilton führte in Russland zum bereits 143. Mal in seiner Karriere ein Rennen der Königsklasse an.

Diese Hierarchie gibt es bei Ferrari nicht. Eventuell ändert sich das in der kommenden Saison – und Vettel wird zum Helfer degradiert. „Es ist sehr schwer, zwei Fahrer zu managen, die beide den Ehrgeiz haben, Rennen gewinnen zu wollen“, betonte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff neuerlich. Der 47-jährige Wiener weiß das genau, denn er steckte 2016 mit Hamilton und dem späteren Weltmeister Nico Rosberg in einer ähnlich heiklen Situation.

Die beiden Mercedes-Rivalen fuhren sich damals sogar gegenseitig ins Auto, auch bei Ferrari kann die nächste Eskalationsstufe nicht ausgeschlossen werden. „Das Vertrauen ändert sich nicht“, sagte Leclerc etwas halbherzig zur Fahrer-Beziehung: „Seb und ich müssen uns gegenseitig vertrauen können. Es ist sehr wichtig für das Team, dass man auf den anderen zählen kann. Das Vertrauen ist weiter da.“

Das fällt schwer zu glauben. Binotto gab dann am Sonntagabend doch noch zu, dass „die Fahrer unterschiedliche Meinungen im Auto hatten, das werden wir mit ihnen besprechen“. Auch Vettel war daran gelegen, den Vorfall intern zu klären. „Ich möchte das Team nachträglich nicht in ein schlechtes Licht rücken“, gab er zu Protokoll, ohne das genau zu erklären. Anweisungen würde er immer befolgen: „Ich bin nicht ignorant.“

Mit seinem Rennfahrerstolz scheint es trotzdem nicht vereinbar, Emporkömmling Leclerc freiwillig Platz zu machen. Der Druck für Vettel ist enorm, denn Ferraris Zukunft heißt Leclerc. Ende 2020 läuft der Vertrag des Ex-Champions aus, vielleicht bleibt ihm nur noch nächstes Jahr eine Chance auf den Titel. Als mögliche Nummer zwei wären die Aussichten noch schlechter. Und so wehrt er sich. Mit allen Mitteln.

Beitragsbild: Gettyimages
(APA)