Hierros Schattenmann: Spanier trauern Lopetegui nach

Die Schuhe, in denen Fernando Hierro auf dem Trainingsplatz in Krasnodar steht, könnten noch aus seiner aktiven Zeit stammen, die Stutzen gehen locker als Tennissocken aus dem vergangenen Jahrtausend durch. Der 50-Jährige ist eine Legende des spanischen Fußballs. Den Schatten seines Vorgängers Julen Lopetegui als spanischer Teamchef wird der Interimscoach bei der WM in Russland aber nicht los.

Die Mannschaft hat mit der Blitz-Trennung von ihrem Erfolgscoach zwei Tage vor Turnierstart noch nicht abgeschlossen. „Ich glaube, die Entscheidung, die ihre Motive und Ziele haben mag, haben wir Spieler nicht nachvollziehen können“, sagte Saul Niguez vor dem abschließenden Gruppenspiel am Montag (20.00 Uhr/live oe24-TV) gegen Marokko in einem TV-Interview. „Julen hätte es verdient gehabt weiterzumachen, nachdem er uns zwei Jahre lang auf die WM vorbereitet hatte.“ Bemerkenswert: Saul spielt nicht bei Lopeteguis künftigem Club Real Madrid, sondern beim Stadtrivalen Atletico.

Der Wechsel zu Real hat die Verbandsspitze dermaßen erzürnt, dass sie den Basken vor dem Auftakt gegen Portugal (3:3) kurzerhand vor die Tür setzte und durch den ehemaligen Real-Star Hierro ersetzte. Dieser war bis dahin Sportdirektor des Verbandes, hatte mit der Mannschaft aber relativ wenig zu tun. „Fernando hat sich gut in die Gruppe eingefügt“, meinte Linksverteidiger Jordi Alba. „Die Spielanlage ist die gleiche wie bei Julen.“

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Die emotionale Entscheidung von Verbandschef Luis Rubiales, sich von Lopetegui zu trennen, trug allerdings auch der Sportdirektor mit – und wechselte zur eigenen Begeisterung auf die Trainerbank. Hierro fand einen funktionierenden WM-Favoriten vor, der unter seinem Vorgänger in allen 20 Spielen ungeschlagen geblieben war.

Lopetegui hatte bei seinen Spielern einen guten Stand. Nicht nur bei der Real-Fraktion um Kapitän Sergio Ramos, der sich gegen dessen Ablösung ausgesprochen hatte, sondern auch bei einem wie Gerard Pique: Der Profi des FC Barcelona, zusammen mit Ramos Wortführer in der Mannschaft, ist wegen seiner Unterstützung für eine Unabhängigkeit Kataloniens bei vielen umstritten. Lopetegui ließ jedoch nie Zweifel daran, dass er zum Nationalteam gehört.

Rechtsverteidiger Daniel Carvajal erzählte in einem Radio-Interview, dass Lopetegui seine Entscheidung für Real zuallererst den Nationalspieler in der Kabine gesagt habe. Niemand habe ein Drama daraus gemacht, einige hätten sogar Witze gerissen. An eine Trennung vom Chefcoach dachte in diesem Moment niemand. Hierro teilt mit seiner Mannschaft nun das eine große Ziel: „Wir wollen um den WM-Titel kämpfen.“ Spanien habe große Möglichkeiten, und was in der jüngsten Vergangenheit geschehen sei, tauge nicht für Rechtfertigungen.

Hierro schmeichelte nach dem Auftakt seinen Profis. „Ich würde keinen meinen Spieler gegen Ronaldo eintauschen, keinen einzigen“, sagte die Real-Ikone, die neben 598 Pflichtspielen für die Madrilenen auch fünf Meistertitel und drei Champions-League-Siege vorweisen kann. Als Spieler war er bei vier Weltmeisterschaften, als Cheftrainer betreute er bisher aber nur den Zweitligisten Real Oviedo.

Der Teamchef spricht gerne von seinen „chicos“, die Spieler haben das Heft aber selbst in die Hand genommen. Nach einem 1:0 gegen den Iran geht es gegen Marokko um den Gruppensieg. Falls der Weltmeister von 2010 am 15. Juli im Finale triumphieren sollte, wird Hierro seinen Ruhm mit Lopetegui teilen müssen. „Julen wird immer Teil unseres Teams sein, egal, was bei dieser WM passiert“, hatte Kapitän Ramos bei einer Pressekonferenz bereits klargemacht. Hierro saß dabei direkt neben ihm.

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