Melzer über Thiem: „Der spielt unmenschlich im Moment“

Wien (APA) – Am Sonntag hat Dominic Thiem mit seinem fünften ATP-Titel in Acapulco in der ewigen Statistik Jürgen Melzer eingeholt. Und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis der 22-jährige Niederösterreicher seinen zwölf Jahre älteren Landsmann überholt. Zumal Thiem schon mit 22 so viele Titel hat wie Melzer mit 32.

Der derzeit wegen einer langwierigen Verletzung an der linken Schlagschulter samt Operation Ende November noch lange ausfallende Melzer sieht dies abgeklärt. „Dass er mehr Turniere gewinnen wird als ich in seiner Karriere, davon ist auszugehen. Zur Nummer 8 fehlt ihm schon noch etwas. Klar, spielt er so weiter, wird er das auch schaffen“, erklärte Jürgen Melzer am Samstag im APA-Gespräch. Doch Melzer gönnt Thiem jeden Erfolg. „Ich bin der Letzte, der jetzt zuhause sitzt und hofft, dass er verliert. Das ändert ja nichts an meinen Erfolgen, ich habe meine Sachen erreicht.“

Von Thiem, der am Montag erstmals Nummer 14 im ATP-Ranking ist und im ATP-Race 2016 sogar sensationeller Dritter nach den ersten zwei Monaten ist, ist aber auch Melzer begeistert. „Er führt im Moment das österreichische Tennis um Eckhäuser an. Der spielt unmenschlich im Moment“, sagte der 34-jährige Melzer.

Vor allem die Art und Weise wie Thiem sich präsentiert, beeindruckt Melzer. „Egal, wie gut der Gegner ist, er hat sein Spiel, das er durchzieht. Das ist sehr schwierig, die finden noch überhaupt kein Rezept. Die ganz Guten vorne, da spreche ich aber schon von den ersten fünf, sechs, die werden schon Mittel und Wege finden, um ihm wehzutun“, glaubt der frühere Weltranglisten-Achte. Melzer hat beobachtet, dass Thiem eine Spur besser returniert als vergangenes Jahr und: „Unglaublich, wie fit er ist. Da ist einiges weitergegangen.“

Tennis-taktisch gesehen ist Melzer aufgefallen, dass Thiem es sich leisten kann, sehr weit hinter der Grundlinie zu spielen. „Weil er so schnell spielt und keiner es schafft, gegen ihn an der Linie zu spielen. Es sind alle gezwungen, auch nach hinten zu gehen und dann werden die Wege extrem weit.“ Eine echte Waffe ist auch der Aufschlag, auch weil es laut Melzer nur noch wenige gibt, die den Ball „vorne returnieren können“ (also im Aufsteigen nehmen). „Und wenn du den Ball ausspringen lässt, bist du zweieinhalb Meter seitlich aus dem Platz draußen. Dafür spielt er einfach zu gut.“

Was traut Melzer dem neuen Stern am Tennis-Himmel zu? „Es ist drinnen, dass er das Jahr in den ersten 10 abschließt. Bei Grand Slams kommt es auf die Auslosung an. Ich glaube, dass es gegen Djokovic, Federer und Murray bei best-of-five noch hart wird, alle anderen sind aber absolut in seiner Reichweite.“ Zudem interessierte den früheren French-Open-Halbfinalisten, wie sich Thiems Gegner auf ihn einstellen können, wenn sie öfter gegen spielen.

Den Stress von einem Turniersieg in Übersee zum Davis Cup nach Europa fliegen zu müssen, kennt Melzer. „Ich habe es einmal gemacht: von den US Open, nachdem wir das Doppel dort gewonnen haben, nach Belgien. Da war der Freitag schon sehr zäh, ich war erst am Sonntag wieder bei meinen vollen Kräften.“ Allerdings habe er damals das Finale erst am Sonntag gespielt. Der Freitag könne für Thiem aber schon zäh werden.

Er selbst arbeitet im Hintergrund hart an seinem Comeback, im April – wenn geht schon etwas früher – will er wieder mit Softbällen beginnen. Seine realistische Rückkehr mit dem „protected ranking“ von 130 im Einzel bzw. 70 im Doppel schätzt er für „irgendwann im August ein“, auch wenn er von Wimbledon träumt.

Wie hoch steckt er seine Ziele noch? „Wenn die Schulter voll hält, glaube ich schon, dass ich noch einmal vorne reinspielen kann.“ Einen großer Vorteil sieht er darin, dass er sich um alle anderen Körperbereiche kümmern kann. „Ich habe wahrscheinlich so viel Kraft in den Beinen wie schon lange nicht mehr, die Ausdauer wird zu dem Zeitpunkt, an dem ich einsteige, einfach top sein. Man muss schauen, wie schnell die Schulter noch ist.“

Die Rückkehr wird auch mit dann 35 keine auf nur einige Monate befristete sein. „Ich weiß, dass ich mindestens ein Jahr brauche. Das wird ein mühsamer Weg mit Challenger, Challenger, Challenger.“ Aber Melzer weiß, warum er sich das antut. „Weil Tennis mir einfach noch fehlt.“

(Das Gespräch führte Gerald Widhalm/APA)

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